Putzfrau letzten Grades, die Dritte

Das Bekleidungsgeschäft Plunder lag durch den Umzug um einiges näher an der Stadtbücherei. Ein kurzer Abstecher hinüber, um Bücher zurückzubringen, dürfte kaum auffallen, wenn man nicht zufällig im Verkaufsraum gesucht wurde. Am besten eignete sich für diesen heimlichen Botengang natürlich die Frau, die durch ihre Arbeit bedingt sowieso den Laden verlassen musste, um außerhalb das Fenster zu putzen.

Saga verstand es trotzdem, den kleinen Abstecher zur Bücherei mit ihrem Gang zur Post zu verbinden, damit sie nicht in Schwierigkeiten käme. Die kleine Hilfeleistung rigoros abzulehnen, kam nicht in Frage, denn dann würde sie kaum noch von ihresgleichen in höherer Position beachtet. Und wer mag schon ausschließlich Puztutensil sein und ganz auf jeglichen Wortwechsel verzichten?

Es kam, wie es kommen musste: An dem besagten Tag X erwischte Frau Siedaar die arme Saga mit dem Bücherstapel unterm Arm auf dem Weg hinaus, als sie selbst gerade von auswärts auf dem Weg in den Laden schwebte. Wer kennt nicht das Märchen von der bösen Stiefmutter, als dem armen Stieftöchterchen die Spindel in den Brunnen fiel? So erging es auch Saga und bis zur Goldmarie war die Zukunft noch nicht beleuchtet.

Saga wurde sofort ins Büro zitiert und musste ein Gewitter über sich ergehen lassen, dass man eigentlich lieber der ausgedörrten Namibwüste gewünscht hätte: „Ich bin ja so enttäuscht von dir Saga. Weißt du was du bist? Ein Dieb. Du hast gestohlen, ja, du hast Arbeitszeit gestohlen! Nein, was bin ich enttäuscht von dir. Wie kannst du nur so unehrlich sein? Am liebsten würde ich dich sofort rausschmeißen. Ein Dieb hat hier nichts verloren. Kannst du dir vorstellen, dass du für Arbeitszeit bezahlt wirst? Und du gehst einfach ohne Erlaubnis zur Bücherei. Du bekommst also Geld für die Zeit, in der du nicht da bist. Und das ist Diebstahl!“

Sagas Einwände, dass es mit dem Gang zur Post nur ein kleiner Umweg war, wurden einfach vom Tisch gewischt, auch das Argument, dass die Bitte zum Botengang von der zweiten Vorgesetzten kam. Die Chefin wiederholte sich in der Anschuldigung und entließ die zusammen geputzte Saga mit dem Widerhall von „Dieb“ und dass sie Frau Siedaar aus den Augen gehen möge.

Saga ging wieder an die Arbeit und grübelte über die Ungerechtigkeit der Welt. Keiner der anmutigen Kleiderbügelverschieber erbarmte sich ihrer mit einer mitfühlenden Geste oder wagte sich gar, bei der Chefin den Zorn auf ihren eigenen Anteil an Bibliotheksvorrat zu lenken.

Zur Zeit des Kaffeebedarfs stellte Frau Siedaar fest, dass die Vollmilch sauer geworden war, weil man vergessen hatte, sie in den Kühlschrank zu stellen. Saga wurde ausersehen, den Vorrat zu ergänzen, da sie am ehesten abkömmlich war, denn gerade betraten 2 Kundinnen den Laden, was die erhöhte Aufmerksamkeit der Verkäuferinnen beanspruchte.

Am wichtigsten war jedenfalls die Anordnung, das Einkaufsbillett für die Milch mitzubringen. Saga musste ihre Auffassungsgabe beweisen und genau bestätigen, dass sie diesen Auftrag verstanden habe. Verwundert wegen dieser Dringlichkeit marschierte Saga zum nächsten Lebensmittelladen. Sie kaufte einen neuen Liter Milch und wartete höflich, bis die Kasse die Kaufskopie ausspuckte. Dann trug sie beide, die Milch und den Kassenzettel in der Plastiktragetüte die lange Strecke zurück zu Plunder.

Frau Siedaar wartete schon. Und dann kam die Überraschung:

„Saga, nun gehst du mit dem Kassenzettel und der alten Milch zurück und teilst der Verkaufsleitung von „Koof und Loof“ mit, dass die Milch sauer sei. Ich hätte dich geschickt und du sollst die Milch bitte umtauschen!“

Saga meinte, sich verhört zu haben. Den vorigen Auftrag hatte sie begriffen, aber den neuen Befehl traute sie sich nicht zu, richtig verstanden zu haben. Sicherheitshalber fragte sie noch mal nach:

„Wie soll das sein? Diese Milch habe ich doch eben gar nicht gekauft. Dann kann ich doch nicht behaupten, die neue Milch sei alt?!“

Frau Siedaar wurde leicht ungeduldig bei soviel Begriffsstutzigkeit. „Die Flasche ist ja noch voll. Das kann man doch nicht wegwerfen. Wir wollen nur, dass der Laden es gegen eine neue Flasche umtauscht, und dazu musst du eben behaupten, dass du es gerade gekauft hattest. Als Beweis hast du ja den Kassenzettel von eben.“

Saga platze empört heraus: „Aber Mevrou, das ist doch Betrug! Ich bin kein Dieb und das tue ich nicht.“

Frau Siedaar redete freundlicher auf Saga ein: „Guck mal, Saga, wir nehmen denen doch nichts weg. Sie können diese Milch ja wieder bei der Molkerei umtauschen. Und da die Flasche voll ist, kann man das leicht umtauschen. Das ist bestimmt kein Diebstahl.“

Saga wurde ganz aufgeregt: „Vorhin wurde ich als Dieb beschimpft, weil ich zur Bibliothek wollte, was kaum ein paar Minuten gedauert hätte. Wegen ein paar Minuten musste ich mich schelten lassen. Das hier ist wirklicher Betrug und Diebstahl. Die Milch, die ich gekauft habe ist nicht schlecht. Da kann ich keine alte Milch hinbringen! Wie werde ich denn da angeguckt? Hier muss ich lügen, damit die Leute den Schwindel nicht merken! Niemals mache ich das. Dann wäre ich wirklich ein Dieb und Betrüger!“

Frau Siedaar dämmerte, dass sie sich in Saga die falsche Person für ihre Handlung ausgesucht hatte. Sie beschwichtigte Saga also, dass sie doch nicht zu gehen bräuchte. Außerdem habe sie vielleicht überreagiert und zu sehr wegen der Bibliothekssache geschimpft. Das sei alles nicht so gemeint. Saga möge die Angelegenheit einfach vergessen, wie sie es auch vergessen würde.

Zum Schluss griff sie nach Sagas Hand und legte ihre andere Hand auf den freundlichen Pakt zur Völkerverständigung. Sie strömte geradezu über vor Herzlichkeit, damit Saga beide unliebsamen Sachen vergessen möge: Die Bibliothek und die Milch.

Als Saga ihrer gewohnten Arbeit nachging, hatte sie doppelten Grund, über das Verhalten der Chefin nachzugrübeln. Ob es ihr wirklich leid getan habe? Bestimmt, denn sonst hätte sie garantiert nicht auch noch die linke Hand auf den Händedruck gelegt. Vielleicht ist sie im Kern doch recht nett…

Frau Siedaar schickte als Ersatz für die streikende Botengängerin eine der Verkaufsdamen, um die Milch umzutauschen. Ihr wurde mit gehörigem Misstrauen begegnet, denn alle Milchflaschen im Regal zeigten ein neueres Verkaufsdatum. Die Verkaufsdame bestand jedoch darauf, gerade diese Flasche gekauft zu haben. Schließlich wurde ihr widerwillig die Milch umgetauscht, um kein Aufsehen zu erregen. Aber geglaubt hatte ihr offensichtlich keiner. Frau Siedaar bekam die Nachricht, dass die Handlung keine so gute Idee war und dass man nicht wieder dazu bereit sei, alte Milch wegzutragen.