Kolonialismus: Richtig oder falsch???

E. und Saga diskutierten häufig über Religionsweisheiten, Politik, Ungerechtigkeit der Güterverteilung oder die Folgen der Apartheidpolitik. Meistens endeten die Diskussionen auf einem Misston, wobei Saga mit dicker Lippe bügelte und E. sich mit zusammengepresster dünnerer Lippe ins Wohnzimmer zurückzog und sich überlegte, warum sie überhaupt mit einer Hausangestellten in Wortwechsel geriet. Manchmal nahmen diese Diskussionen aber auch eine komische Wendung an. Ein Gespräch deutete an, dass der Trieb zum Kolonialismus nicht ausgestorben ist.
In Swakopmund spazierten zwei Ovahimbafrauen zum Fotografen. Die Ovahimbas trachten danach, weiter in ihrer Ursprungskultur zu leben. Sie gehören dem Hererostamm an, haben sich aber trotz ihres Reichtums ihre traditionelle Lebensart erhalten.
Diese zwei Ovahimbafrauen waren also mit ockerfarbene Erde und Fett beschmiert, damit sie schön tonfarben glänzten. Sie trugen den ledernen Kopfschmuck und liefen barbusig und hocherhobenen Hauptes durch die Swakopmunder Straßen, was die schwarzen Mitbewohner als sehr befremdlich empfanden. Es löste einen richtigen Schock aus, als plötzlich die Vergangenheit „lebendig“ wurde.
Saga hatte diese zwei Frauen in der Stadt erblickt und trug das schockierende Erlebnis mit sich herum, bis sie es bei E. loswerden konnte.

Saga: „Stell Dir vor, sie hatten nicht mal den Busen bedeckt. Ja, frieren die denn gar nicht? Es war doch neblig und kalt!“
E.: „Saga, das ist ihre Lebensart. So sind sie immer angezogen, egal, ob es warm oder kalt ist. Sie haben keine Jacken, wie wir.“
Saga:“ Okay, wenn sie im Kaokoland leben und im Busch… Aber wenn sie in die Stadt kommen, dann sollten sie sich doch etwas anziehen.“
E. (unschuldig): „Warum? Das ist ihre Art zu leben.“ Und dann leicht provozierend: “So haben Deine Vorfahren auch gelebt, als die Weißen ins Land kamen.“
Saga (empört): „So haben meine Eltern nicht gelebt!“
E.: „Deine Eltern sicher nicht, aber Deine Großeltern haben früher so gelebt. Die Missionare haben ihnen gesagt, dass sie sich anziehen sollen.“
Saga: „ Ja, aber man muss doch heute nicht mehr so rumlaufen.“
E.: „ Also war es richtig, dass die Weißen euren Leuten gesagt haben, sie sollen Kleidung anziehen?“
Saga (zögernd): „ Nein, denn ohne sie hätten wir alle noch in unserer Tradition gelebt.“
E.: „ Also würdest Du auch lieber wieder in Fellkleidung leben, so wie die Ovahimbas?“
Saga (geschockt): „Nein, wir haben uns ja jetzt an die neue Kleidung gewöhnt. Und das sollten die Ovahimbas auch tun!“
E.: „Aber sie wollen doch nicht. Sie sind so zufrieden, wie Deine Vorfahren zufrieden waren!“
Saga (überzeugt): „Die Zeiten sind jetzt anders. Sie müssen sich einfach anpassen.“
E.: „Saga, Du verstehst nicht. Sie WOLLEN so leben. Das ist ihrer Tradition!“
Saga:“ Dann muss man sie zwingen, sich der modernen Welt anzupassen.“
E. (übertrieben entsetzt): „Aber Saga, Du bist ja ein Kolonialist!“
Saga verschlägt es die Sprache: „ ?????“ Sie schaut ganz entgeistert.
E. erklärt: „Du willst genau das tun, was die Kolonialisten getan haben. Du willst die Ovahimbas zwingen, ihre alte Tradition abzulegen und sich einer neuen Lebensart anzupassen.“
Saga (sich verteidigend): „Aber das ist doch richtig so. Die Zeiten haben sich eben geändert und das müssen auch die Ovahimbas begreifen.“
E.: „Siehst du, das haben auch die weißen Kolonialisten gedacht und haben die Schwarzen in Afrika gezwungen, ein neues Leben zu führen. Dann haben sie also richtig gehandelt? Dann war das in Ordnung, dass die weißen Kolonialisten die alten Traditionen geändert haben?“

Saga zögerte, zu antworten. Sie hüllte sich in Schweigen und grübelte den Rest des Tages über Kolonialismus, Ovahimbas und … eigentlich hätte ich gern gewusst, welche Gedanken alle durch den Kopf gekreist sind. Jedenfalls wurde das Thema nicht wieder angeschnitten.